Versagensangst: Bin ich gut genug?
Das Ende des Jahres naht. Die Vorfreude auf die Festtage oder den wohlverdienten Urlaub mischt sich mit Stress und Angst. Angst vor den immer gleichen Gesprächen am Familientisch: Weshalb hast du deine Weiterbildung noch nicht begonnen? Wieso bist du noch nicht verheiratet wie deine Schwester? Warum hast du die Beförderung doch noch nicht bekommen? Und Angst vor bevorstehenden Mitarbeitergesprächen: Habe ich dieses Jahr gut genug gearbeitet? Erhalte ich die Anerkennung, die ich gerne hätte?
Eine Lösung für dieses Gedankenkarussell: Lasse die Angst einfach mal zu!

Übung: Fokussiere auf deine Angst
Das sagt die Wissenschaft dazu
Wir können lernen, mit unserer Angst umzugehen.
Für viele Menschen ist die Adventszeit gar nicht so besinnlich, wie sie in den zahlreichen Weihnachtsfilmen präsentiert wird. Sie bedeutet, dass man sich den Kopf über das passende Geschenk für die Schwiegereltern zerbricht, in die Stadt fährt und alles fürs Weihnachtsessen besorgt und noch dazu bei der Arbeit die wichtigsten Projekte vor Jahresende abschliessen muss. All diese Dinge führen bei uns zu Stress. Und dann sind da oft noch die Mitarbeitergespräche. Nicht bei allen Menschen führen diese zu einer zusätzlichen Belastung. Wie viel Angst wird vor diesen Gesprächen haben, ist abhängig davon, wie bedrohlich wir sie einschätzen - eine sehr subjektive Angelegenheit. Das Effort-Reward-Imbalance Modell besagt, dass wir mehr Belastung empfinden, wenn wir das Gefühl haben, dass unsere Bemühungen nicht genügend Wertschätzung erhalten. Gut möglich, dass der Arbeitskollege die Wertschätzung als ausreichend empfindet, wir selber aber ständig Angst haben, nicht gut genug zu sein. Dieses Modell lässt sich ebenso gut übertragen auf das Geschenk, über das wir uns so viel Gedanken gemacht haben oder das Essen, das wir an Heiligabend für die Familie gekocht haben.
Aber Achtung: Angst ist nicht per se etwas Schlechtes. Wir Menschen fühlen, weil Gefühle ein evolutionärer Vorteil sind. Die Angst, von einem wilden Tier gefressen zu werden, hat unsere Vorfahren vor manch leichtsinniger Tat bewahrt. Unsere Amygdala im Gehirn bewertet alle Informationen und wirkt als emotionaler Verstärker. Sie sagt uns, ob wir vor einer Situation Angst haben sollen. Und die Amygdala reagiert bei allen Menschen etwas anders. Besonders lösen das Unbekannte, das Unkontrollierbare und das Aussergewöhnliche Angst in uns aus. Dazu nehmen auch unsere Erziehung und unsere Erfahrungen Einfluss auf unsere Ängste. Unsere Angst ist also nicht nur sehr individuell, sie ist auch immer echt. Sie ist unsere Realität. Der Harvard Professor Jerome Kagan hat jedoch herausgefunden, dass wir zwar von Geburt an zu unterschiedlich viel Angst neigen, aber auch lernen können, damit umzugehen.
Wir können lernen, die Angst zu versagen als Anreiz zu nehmen. Ein Experiment hat gezeigt, dass die Art und Weise, wie wir unsere Angst etikettieren, einen Einfluss auf unsere Leistung hat. Leute, die ihre Angst als Anregung verstehen, lösen eine Aufgabe besser als diejenigen, sie sich selber sagen, dass sie sich vor der Aufgabe fürchten. Ausserdem kann Angst abflachen, wenn man sich so stark wie möglich auf das Ereignis konzentriert, das einem Angst bereitet. Hat man das Ereignis, in unserem Beispiel das Mitarbeitergespräch oder das Weihnachtsessen, ständig im Hinterkopf und macht sich Sorgen, ist der Körper dauernd in einem leicht angespannten Zustand, den er lange Zeit aufrecht erhalten kann. Lässt man die Angst aber zu und fokussiert sich vollständig darauf, löst dies eine Stressreaktion aus, die der Körper nur kurz aufrecht erhalten kann und die danach abflacht. Versuche daher mal die Übung oben durchzuführen und spüre, wie sich die Angst in dir langsam legt.
Quellen
Heinrichs, M., Stächele, T., Domes, G. (2015). Stress und Stressbewältigung. Göttingen u.a.: Hogrefe.
Windscheid, L. (2021). Besser fühlen. Eine Reise zur Gelassenheit. Hamburg: Rowohlt.